Einen besonders nachhaltigen Eindruck hat Chrissie Hynde mal auf die damals noch unbekannte Madonna gemacht. Die sah sich Hynde und deren Band The Pretenders 1980 bei einem Konzert im New Yorker Central Park an und war begeistert von dieser singenden Gitarristin und Songwriterin, die auftrat wie ein männlicher Rockstar, dabei aber dennoch weiblich wirkte. „She’s got balls (dt.: Sie hat Eier)“, schwärmte die junge Madonna über Chrissie Hynde, die von den Medien zum Postergirl von Punk und Feminismus stilisiert wurde – Zuschreibungen, mit denen die 71-Jährige nie viel anfangen konnte.
Seit 45 Jahren macht sie inzwischen Musik, ist Mutter zweier erwachsener Töchter – Natalie aus der Beziehung mit Kinks-Sänger Ray Davies sowie Yasmine aus der geschiedenen Ehe mit Simple-Minds-Frontmann Jim Kerr. Und Oma ist sie inzwischen auch, Hynde hat zwei Enkel im Teenager-Alter, Zwillingssöhne ihrer Tochter Yasmine.
Auf dem neuen Pretenders-Album „Relentless“ (erscheint am 15. September) singt sie von den vielen Metamorphosen des Lebens und davon, dass man nicht alt werden müsse – mit einer Stimme, die immer noch kraftvoll und, ja, auf eigenwillige Weise mädchenhaft klingt. In früheren Interviews konnte Hynde schon mal angriffslustig bis eruptiv wirken. Das hat sich anscheinend geändert. Als sie uns aus ihrer Wahlheimat London anruft, ist sie an einem Gespräch interessiert – und nicht auf Krawall gebürstet.
ICONIST: Haben Sie je darüber nachgedacht, wie es wäre, wenn Sie, sagen wir, erst vor fünf Jahren mit den Pretenders angefangen hätten – und dann ständig Instagram und TikTok hätten füttern müssen, um mit Cardi B, Taylor Swift oder Beyoncé mithalten zu können?
Chrissie Hynde: Wenn ich mich mit jemandem vergleichen würde, dann mit Lemmy von Motörhead, nicht mit Beyoncé. Beyoncé ist ja kein Rock ’n’ Roll. Sie steht für einen Bereich von Popmusik, der mich nicht so interessiert. Wenn es für mich so etwas wie ein Vorbild gab und gibt, dann Lemmy.
ICONIST: Warum ausgerechnet Lemmy?
Hynde: Er hatte sich nie angepasst, hat immer sein eigenes Ding gemacht. Über den heutigen Pop-Bereich weiß ich nicht so viel. Aber, um Ihre Frage zu beantworten: Wenn ich erst vor fünf Jahren angefangen hätte, hätte es gut sein können, dass ich am Musikgeschäft gar nicht interessiert gewesen wäre. Würde ich heute als junger Mensch noch Gitarre in einer Band spielen wollen? Ich würde gern glauben, dass dem so wäre, weil es nun mal das ist, was ich liebe. Aber ich würde wahrscheinlich nicht mehr dieselbe Motivation haben wie in den 60ern, als es jede halbe Stunde 50 unglaubliche Bands im Radio gab. Das gibt es in dieser Form heute nicht mehr, wir leben in einer komplett anderen Welt.
ICONIST: Heute gibt es eine überbordende, jederzeit verfügbare Masse aus fast allem – Musik, Filmschnipsel, auf YouTube und Spotify. Das schon seit Längerem anhaltende, wenn auch nur moderate Comeback von Vinyl wirkt dagegen wie ein Anachronismus.
Hynde: Ja. Das ist ein guter Punkt. Vor zehn Jahren konnte man nicht mal mehr einen Plattenspieler kaufen. Jetzt kaufen die Leute wieder mehr Vinyl, weil Alben einfach einen besseren Klang haben als die digitalen Pendants. Interessantes Phänomen. Auf all den digitalen Plattformen und in den sozialen Medien werden wir überwältigt mit zu vielen Informationen, mit immer mehr Auswahlmöglichkeiten. Ich hatte deshalb lange Zeit aufgehört, mir überhaupt noch Musik anzuhören. Ich konnte sie gar nicht mehr aufnehmen. Von diesem Überangebot im Digitalen fühlte ich mich überrumpelt, es ist wie ein Überfall auf meine Sinne. Es gibt von allem zu viel. Seit Vinyl zurückgekommen ist, höre ich wieder mehr Musik. Gott weiß, wie Jugendliche heute damit umgehen. Aber das ist ihre Welt, nicht meine.
ICONIST: Sie haben zwei Teenager-Enkel. Wie ist das, wenn sie die Oma besuchen?
Hynde: Wenn meine Enkel mich besuchen, schauen sie beispielsweise kein traditionelles Fernsehen mehr. Dann sitzen sie da, lachen sich kaputt über irgendetwas auf YouTube – und ich habe keinen blassen Schimmer, worüber sie lachen. Es ist, als würden sie sich manchmal in einer anderen Sprache unterhalten, als lebten sie in einer anderen Welt.
Der Großvater der beiden Teenager im Interview
Jim Kerr von Simple Minds
ICONIST: Irritiert Sie das, weil Sie sich für toleranter hielten?
Hynde: Die Versuchung ist groß, schnell zu sagen: Wir hatten es früher besser. Aber wir haben nicht das Recht, so etwas zu behaupten. Das ist nun mal ihre Welt. Sie müssen selbst herausfinden, wie sie damit klarkommen. Sie mögen ihre Welt auf die gleiche Weise, wie wir damals unsere liebten.
ICONIST: In einem früheren Interview haben Sie erzählt, dass Sie Ihre beiden Töchter mit auf Tournee genommen haben, als sie noch klein waren. Besuchen heute die Enkel ihre Oma, wenn Sie wie zuletzt in Glastonbury oder im Hyde Park mit Guns N’Roses auftritt?
Hynde: Meine Töchter waren nie Rock-’n’-Roll-Kids. Sie gingen ganz normal zur Schule – und in dieser Zeit bin ich übrigens auch nicht auf Tournee gegangen. Das ging nur, als sie noch sehr klein waren und ich sie noch tragen konnte. Als sie zur Schule gingen, hatten sie feste Schlafenszeiten, wir führten kein Leben wie in einem Wanderzirkus. Meine Töchter kamen auch nie zu meinen Konzerten. Wer besucht schon gern seine Mutter bei der Arbeit. Das will man nicht wirklich, oder? Meine Kinder hatten immer ihre eigenen Interessen, und ich habe mein Ding gemacht. Als ich allerdings kürzlich mit Guns N’Roses im Hyde Park spielte, haben mich meine Enkel dann doch mal besucht – weil sie einen schulfreien Tag hatten. Und das hat Spaß gemacht. Ich finde es natürlich toll, sie um mich zu haben.
ICONIST: Ihre Kollegin und Freundin Lucinda Williams sprach mit uns kürzlich über sexistische Diskriminierungen, die sie in den Anfangstagen ihrer Karriere ertragen musste, beispielsweise im Vorfeld eines Videodrehs von Hollywood-Regisseur Paul Schrader. Sie sagte daraufhin, sie habe solche Sprüche einfach ignoriert – und dass sie darüber hinaus nie den Eindruck hatte, dass sie bestimmte Dinge nicht tun konnte, weil sie eine Frau ist ...
Hynde: Ja, das habe ich immer genauso empfunden. Lucinda ist eine gute Freundin, ich liebe sie sehr.
ICONIST: Vor fünf Jahren klagte die #MeToo-Bewegung erst in der Filmbranche, später auch in anderen Bereichen sexistische Übergriffe an, was Forderungen nach sich zog, endlich echte Gleichberechtigung durchzusetzen. Was hat das gebracht?
Hynde: In der Musikszene ist es nicht so wie in der Filmbranche: Es gibt da keine Casting-Couch, auf der du dich auf Sex einlassen musst, um eine Rolle zu bekommen. Lucinda und ich, wir schreiben unsere eigenen Songs. Wir haben also etwas, das wir unseren Bands geben. Wir fragen nicht, ob wir eine Rolle bekommen dürfen. Wir sind es, die die Rollen verteilen. Ich selbst habe in meiner Karriere nie Diskriminierung erlebt. Aber als wir anfingen, gab es das Internet auch noch nicht, es gab nicht dieses Umfeld, in dem bestimmte Minderheiten wie heute schnell eine sehr laute Stimme bekommen können. Ich bin in den 60ern aufgewachsen, wir dachten damals, wir hätten alle Probleme gelöst – und dass es in der Musik nicht um Gender, ethnische Herkunft oder Religionszugehörigkeiten geht. Ich fühlte mich jedenfalls nie diskriminiert. Niemand hat mir je vorgeschrieben, was ich anziehen, worüber ich singen oder was ich denken sollte. Nie hat mir einer von der Plattenfirma gesagt, ich solle sexy Klamotten anziehen oder so etwas. Jesus! Das wäre niemandem im Traum eingefallen, mir so etwas zu sagen.
Lesen Sie hier das Interview mit der Country-Rock-Ikone
ICONIST: Nun haben Sie ein neues Album aufgenommen, es heißt „Relentless“ – ein Wort, das Ihre Haltung ganz gut charakterisiert, aber viele Nuancen hat. Es kann „unbarmherzig“, „unerbittlich“, „gnadenlos“, aber auch „unermüdlich“ bedeuten. Gefällt Ihnen die Mehrdeutigkeit dieses Wortes?
Hynde: Ja. Manchmal möchte ich alle Bedeutungen ausschöpfen, die ein Wort in sich trägt. Nicht nachlassen, immer weitermachen – das steckt da auch drin. Es war mir wichtig, das jetzt herauszustellen. Ich mache diesen Job jetzt seit 45 Jahren – da passte der Ausdruck. Manchmal fragen mich Leute: „Warum macht ihr Künstler denn immer noch weiter, nach all den Jahren? Ihr müsstet das doch nicht mehr machen.“ Die haben es eben nicht kapiert. Sie denken, dass du aufhören solltest mit dem Arbeiten, wenn du eine gewisse Summe Geld im Leben verdient hast. Musiker arbeiten aber nicht in einem Büro. Niemand von uns müsste mit 70 weitermachen. Viele von uns machen es trotzdem, weil wir es lieben. Wenn du 40 Jahre lang einen Büro- oder Fabrikjob hattest, der dich nicht erfüllt hat, sehnst du die Rente sicher herbei. Weil du dir sagst: Ich will mal reisen, die Welt sehen, anfangen zu malen, all die Dinge machen, für die ich vorher nie Zeit hatte. In meinem Job mache ich die ganze Zeit und schon immer das, was ich machen wollte. Insofern will ich nicht in Rente gehen.
ICONIST: Sie sind ein Glückspilz.
Hynde: Bevor ich in einer Band spielte, hatte ich Jobs, die nicht toll waren. Ich verließ die USA, als ich 22 war, zog nach London. Ich musste anfangs als Kellnerin arbeiten, als Putzfrau, jeden beschissenen Job annehmen, den ich bekommen konnte, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ich war sogar mal Aktmodell in einem Kunstcollege, solche Sachen halt. Ich hätte diese Jobs sicher nicht angenommen, wenn ich, wie die ganzen Engländer, die ich damals kannte, von der Sozialhilfe hätte leben können. Dann hätte ich vermutlich auch nur in einem besetzten Haus herumgesessen und Dope geraucht. Als Amerikanerin hatte ich in England aber keinen Anspruch auf staatliche Unterstützung. Heute bin ich dankbar dafür. Jedes Mal, wenn ich auf die Bühne gehe und nervös werde – und ich bin eigentlich immer nervös –, denke ich mir: „Alles halb so wild. Dafür muss ich heute nicht mehr an irgendwelchen Tischen bedienen oder für Kunststudenten Modell stehen.“ Ich kann immer noch in einer Rock-’n’-Roll-Band spielen. Das ist ein befreiendes Gefühl.
ICONIST: In dem neuen Song „Merry Widow“ singen Sie: „Ich bin eine geschiedene Frau, aber ich fühle mich wie eine Witwe – ich bin eine lustige Witwe.“ In einem anderen Lied heißt es: „Ich war in meiner Blütezeit, ich habe meine Chancen genutzt“, und „die Zeit ist wie ein Hammer, sie vergeht erst langsam, dann immer schneller“. Sie blicken zurück, aber ohne Zorn, obwohl Sie früher oft zornig waren. Ist das jetzt Altersmilde?
Hynde: Das Älterwerden bringt es mit sich, dass du irgendwann herausfindest, dass Wut dir nicht weiterhilft. Wut verbessert nie eine Situation. Und: Wut ist die Domäne der Jugend. Auch wenn alte Menschen natürlich ebenfalls wütend werden – und es auch sein sollten. Manchmal. Aber, entspannter zu sein, auch mal philosophischen Gedanken nachzuhängen, das ist ein Vorteil, ein Gewinn, wenn du schon längere Zeit gelebt hast. Und ich finde, man sollte es feiern, wenn man diesen Zustand erreicht hat. Das Wichtigste ist jedoch auch im Alter, trotz solcher Rückblicke weiter nach vorn zu schauen. Ich will schließlich nicht in meiner Vergangenheit leben.
ICONIST: In dem Song „Let The Sun Come In“ singen Sie gegen den Tod an: „Sie sagen, dass wir sterben müssen, ich glaube das nicht, das ist eine Lüge.“ Und weiter: „Wir müssen nicht alt werden, ewig zu leben, das ist der Plan.“ Würden Sie gern ewig leben?
Hynde: Ich erinnere mich noch genau, wie es mir ging, als Bob Dylan 80 wurde – das fand ich ziemlich verrückt. Ich wusste noch, wie es war, als mein Schwiegervater 80 wurde. 80, diese Zahl klang sehr, sehr alt. Wenn du 80 bist, weißt du, dass die nächsten Jahre deine letzten sein könnten. Grundsätzlich kann natürlich jedes Jahr unser letztes sein. Nur ist es mit 80 sozusagen todsicher, dass du nicht mehr so lange zu leben hast. Dass Dylan, McCartney und Jagger mit über 80 noch immer Musik machen, spornt uns jetzt alle an. Denn ich will nicht aufhören, das zu tun, was mich erfüllt und was mir Spaß macht. Warum sollte ich also aufhören?
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Zur Person:
Mit Songs wie „Don’t Get Me Wrong“ oder „Hymn To Her“ schrieb sie mit ihrer 1978 gegründeten Band The Pretenders in den 80er-Jahren Welthits, zuletzt veröffentlichte sie ein Buch mit ihren Zeichnungen („Adding The Blue“, 2018), nahm mit Orchester ein Jazz-Album auf („Valve Bone Woe“, 2019). Chrissie Elaine Hynde, am 7. September 1951 in Akron im US-Bundesstaat Ohio geboren, studierte zunächst Kunst in den USA, 1973 zog sie nach London. Dort jobbte sie im Kleiderladen von Vivienne Westwood, war mit Punkmusikern wie Johnny Rotten befreundet. Am 25. September spielen die Pretenders in Berlin.
Author: Linda Sanchez
Last Updated: 1700418241
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